Wovor ich Angst hatte vor meinem Jahr in Ecuador? Am Anfang besonders davor, nicht genügend Worte zu haben. Dass ich selbst Spanisch nicht schnell genug lernen würde, um mich selbst auszudrücken oder um andere zu verstehen.
Doch nun bei meiner Rückkehr wurde mir klar, dass ich unendliche viele deutsche Wörter kenne, diese mir allerdings trotzdem nicht die Fähigkeit verleihen, mein Jahr 10000km entfernt von hier zu beschreiben und anderen vorstellbar zu machen.
Aber versuchen wir’s aufs Neue.
„Wie war’s denn so? Erzähl doch mal?“ Schön, gut, toll, ganz nett – was wollt ihr hören? Auf schwammige Fragen antworte ich meist mit ungenauen Antworten. Ich habe festgestellt, dass es die Erkenntnis „…und das war mein Jahr in Ecuador“ gar nicht gibt.
Ich möchte heute für euch lieber Einzelnes erfassen, denn ich kann wohl kaum mein Leben in Playas in Gesamtheit darstellen lassen.
Also, wie habe ich gelebt, was habe ich erlebt?
Ich habe Wände bemalt, ich habe mit rohen Eiern geworfen, ich habe definitiv zu viel Maracuja-Torte gegessen und ganz schön viel Geld für Sonnencreme ausgegeben. Ich habe mal 21 Bananen für einen Dollar gekauft und dafür auch mal einen Liter Sojamilch für gute fünf. Ich habe gerappt und Salsa getanzt, ich war joggen am Strand, ich hatte eine Lebensmittelvergiftung und ich habe mich auf Flohmärkten durchgehandelt. Ich bin spontan in einen Bus gestiegen und in einem Partydorf versackt, ich habe ein Katzenbaby bei uns aufgenommen, zwei Küken adoptiert und Cocktailabende veranstaltet. Ich habe neue Gerichte gekocht, mich dabei manchmal vor zu viel Fisch geekelt und so getan, als ob mir Garnelen schmecken würden. Ansonst war ich aber eigentlich immer ziemlich ehrlich zu mir. Ich war ehrlich, als es mir mal nicht so gut ging, als ich mich ungerecht behandelt gefühlt habe, als ich mich zusammen mit Lotta für einen Gastfamilienwechsel entschied. Ich habe auch mal Ärger bekommen, Termine vergessen und drei Gläser kaputt gehen lassen. Ich habe Postkarten geschrieben und vier Monate vergeblich auf ein Paket gewartet. Ich habe einen Antrag beim Bürgermeister eingereicht, der niemals beantwortet wurde. Dann habe ich angefangen, spanische Bücher zu lesen, ich habe verzweifelt ein Halloween-Kostüm gesucht und nachts die Sterne aus der neuen Perspektive beobachtet, ich habe um Mitternacht Nudeln gekocht und mich wie zu Hause gefühlt. Ich habe gemerkt, dass ich zuhause bin. Und genau dieses Gefühl hat mir auch manchmal Sehnsucht spüren lassen.
Ich habe auch vermisst, meine Familie, meine Mama, meine Freunde, dunkle Körnerbrötchen, eine Spülmaschine oder ein eigenes Kopiergerät. Doch genauso vermisse auch jetzt: Ich vermisse den kleinen Laden, in dem wir so oft gefrühstückt haben, eine Masse aus Banane, Käse und Butter, die sich „Bolón“ nennt, ich vermisse einen vollgestopften Markt, in dem sich ein Obststand voll mit exotischen Früchten an den anderen reiht. Ich frage mich, warum nicht auch hier aus jedem Haus laut Musik dröhnt und wo die kleinen gelben Wagen sind, die mich durch die Stadt kutschieren. Ich wünsche mir manchmal mehr Weltoffenheit, so wie ich es in Playas auf den Straßen erlebt habe, die Selbstverständlichkeit, mich auch nachts bis vor die Haustür zu bringen, damit mir auch ja nichts geschieht. Eine Disko am Pazifikstrand, ein Kino mit Extrarabatten am Dienstag und unsere Fußballturniere am Freitag. Ich vermisse die Tradition, dass man zum Geburtstag den Kopf in den Kuchen drückt und würde gerne mein Glück nochmal auf dem Surfbrett versuchen.
Ich sehe mehr und Meer. Den Pazifik, um genau zu sein. Ich rieche Freiheit und bekomme diesen einen spanischen Song nicht aus dem Kopf. Zum Glück singen wir oft, sodass meine Freunde eigentlich immer in den Ohrwurm mit einstimmen können. Dann suchen wir ein Wort für „Ohrwurm“ auf Spanisch. Wir finden keins. Eine für mich groteske Lücke im Wortschatz dieser Sprache.
Musik ist natürlich der größte Teil meines Alltags. Denn dafür bin ich ja hier, meinen Freiwilligendienst zu absolvieren. Dabei sind wir keine Weltverbesser:innen. Das kann ich nicht, das will ich nicht, das sollte ich auch nicht.
Also stelle ich lieber ein anderes Motto in den Vordergrund: Lebensfreude teilen, aber nicht die ganze Welt heilen. Ich liebe Musik und ich habe Menschen gefunden, die dies genauso tun. Ich habe unterrichtet und versucht, alles beizubringen, was ich kann. Ich habe in meinem Unterricht aber auch Memory gespielt, getanzt, gemalt oder einfach mal die ganze Stunde verquatscht. Ich habe gelernt Teil einer Band zu sein und einen Chor zu leiten. Ich hatte Tiefen, in denen mein Chor fast zerbrochen ist und Höhen, in denen die Band sogar für Restaurantauftritte engagiert wurde. Ich habe fremde Musik gehört und für mich neue Playlisten erstellt.
Ich habe angefangen, mich an Diskussionen zu beteiligen. Sich auf eine Kultur einzulassen, bedeutet für mich nämlich nicht, alles bedingungslos anzunehmen, ohne es kritisch zu hinterfragen. Ganz im Gegenteil: Ich bin mehr als sonst für meine persönliche Meinung eingetreten, ich habe aufgrund meines neuen Umfeldes plötzlich Neues gesehen, Selbstverständliches wurde in Frage gestellt, Erklärungen angefordert, die in meiner „Bubble“ in Deutschland nie thematisiert wurden. Ganz unbemerkt habe ich auch politisch meinen Standpunkt klarer denn je definiert.
Um also auf die Frage zurückzukommen: „Wie war’s denn so?“. Ich will euch eine Antwort geben: Playas WAR nicht nur, es IST. Es lebt und blüht, ist bunt und vielfältig. Playas war noch lange nicht und ich hoffe, es wird auch nie vergehen. Denn „Mein Playas“ lässt für mich das „Heute“ so erst entstehen.
Bevor wir also weiterreden, macht euch lieber selbst ein Bild, macht „Mein Playas“ zu „Dein Playas“. Fragt mich nicht, wie es war, sondern lernt kennen, wie es ist.
Lilli Kollmeier