Hallo Menschen!
Die ersten Wochen der Orientierung, geprägt von täglichen, neuen Begegnungen von Schülern bis hin zu immer mehr Familienmitgliedern weichen nun langsam der Routine. Doch von Alltag kann Anfang Oktober keinesfalls die Rede sein.
Grund dafür war die politische Situation, die das ganze Land für 12 Tage ins völlige Chaos hat stürzen lassen. Ich werde in diesem Blog nun circa zwei Wochen nach all diesen Ereignissen die Situation so schildern, wie ich sie während des Ausnahmezustands wahrgenommen habe. Genau Einzelheiten mögen unter Umständen in den meisten Medien anders dargestellt sein, alles, was ich hier schreibe ist lediglich das, was ich aus Gesprächen mit meiner Gastfamilie, Freunden oder Taxifahrern herausgehört habe.
In der ersten Oktoberwoche hat die Regierung über Nacht die Benzinpreise in ganz Ecuador auf mehr als das Doppelte angehoben, was natürlich auf große Empörung bei eigentlich allen hier gestoßen hat. Daraufhin begannen direkt am selben Tag noch bundesweite Streiks (Streik = paro) und Demonstrationen gegen die Regierung, vor allem aber in den großen Städten Quito und Guayaquil. Abgesehen von den meisten Berufstätigen und allen Nutzern des öffentlichen Verkehrsnetzes traf dieser Anstieg der Benzinpreise besonders die sogenannten „indígenas“, die in der „sierra“ beheimateten Ureinwohner. Was ich erst ein bisschen später verstand ist, dass die sierra wohl so etwas wie das wirtschaftliche Zentrum Ecuadors ist und abgesehen von Fisch und Reis eigentlich alle Nahrungsmittel täglich von dort an den Rest des Landes geliefert werden. Die hohen Benzinpreise waren für die indígenas kaum zu bezahlen, daher haben diese die Auslieferung von Nahrungsmitteln kurzerhand eingestellt, um eine Einigung mit der Regierung zu erzwingen. Da die erhoffte Reaktion allerdings ausblieb, hat sich ein Großteil der indígenas nach wenigen Tagen des Streiks auf den Weg Richtung Quito und Guayaquil gemacht, um dort Vorort an den Protesten teilzunehmen und ihrer Unzufriedenheit in den Straßen der Großstädte Luft zu machen. Dessen noch nicht genug, schlossen sich diesem Zug der indígenas auch sehr schnell die „indios“ (Bewohner des „oriente“ Urwaldgebietes) an.
Aufgrund der heftigen, teilweise gewaltsamen Proteste in den großen Städten wurde die Polizei aus den Straßen von Patroullien etc. abgezogen, um politische Institutionen wie Rathäuser u.ä. zu schützen, da die Aggression sich ja zunächst gegen den Präsidenten und seine Regierung richtete. Das hat die ohnehin sehr aufgebrachte, aber eben auch sehr arme Bevölkerung dazu gebracht, massenhaft Supermärkte, Banken, Elektronikgeschäfte oder sonstige Läden zu stürmen, da nun keine staatliche Autorität einzugreifen drohte.
Es gab also zeitweise auf der einen Seite diese, die gegen die Regierung protestierten und daher streikten und auf der anderen Seite jene, die diese nationale Unruhe nutzten, um im weitesten Sinne die „Anarchie“ auszurufen. So war zum Beispiel momentan der gesamte Fernverkehr lahmgelegt, zum einen da manche Busfahrer streikten, zum anderen aber auch weil die Straßen größtenteils blockiert waren (zum Beispiel durch Märsche der indígenas) und die Gefahr, dass Autos einfach angehalten, übernommen oder zerstört werden, größer denn je war.
Was ich davon mitkriege
Für mich persönlich waren die zwei Wochen des Streiks sehr unübersichtlich, da sich einerseits die Ereignisse täglich mehrmals überschlugen, andererseits da meine Familie keinen Fernseher besitzt und ich somit eben nicht den direkten Kontakt zu den neusten Nachrichten hatte. In Playas selbst hat eigentlich nur an einem Tag eine wirkliche Demonstration stattgefunden, diese ist allerdings friedlich verlaufen. Trotzdem war deutlich zu beobachten, dass die Straßen sobald es dunkel wurde (was hier schon um 18:00 Uhr der Fall ist) schon wie leergefegt waren, Türen und Fenster geschlossen und teilweise verbarrikadiert wurden. Darüber hinaus wurde nach circa 5 Tagen des Streiks ein Ausnahmezustand ausgerufen, der es uns sowieso verbot, nach 20:00 Uhr auf den Straßen zu sein. Davon hat in Playas allerdings kaum jemand Notiz genommen.
Neben dem Unterricht in Schulen, der die gesamte letzte Woche ausfiel, wurde auch das Cacique immer wieder spontan geschlossen und wenn es geöffnet war, kam es auch schon mal vor, das Schüler aufgrund des Streiks nicht auftauchten. Eine weitere Auswirkung des „paro(s)“, die ich hier hautnah miterlebte, war die Konsequenz der eingestellten Lebensmittelversorgung durch die indígenas: in den Supermärkten sowie den kleinen „tiendas“, die hier an jeder Ecke sind, standen die Regale mit Obst, Käse oder Fleisch reihenweise leer und das, was noch da war, wurde mit der Zeit immer teurer.
Insgesamt war die letzte Zeit wirklich sehr aufregend, was zum einen ganz einfach an dem gigantischen Ausmaß der Situation lag. Zum anderen aber auch daran, dass die Situation für mich auch unfassbar schwer einzuschätzen war, da ich erstens eben ohne Wlan und Fernseher eben kaum Kontakt zu öffentlichen Medien hatte und zweitens eben auch nicht alles auf spanisch verstehe. Besonders schockierend waren natürlich immer die Momente, wenn wir abends bei unseren Gastfamilien zusammensaßen und auf deren Handys Videos von Freunden aus Guayaquil anschauten, wo wirklich massenhaft Häuser und Autos in Flammen standen, Leichen auf den Straßen lagen und Menschen mit geklauten Flachbildschirmen unterm Arm vorbeirannten.
Ich habe mich hier trotz allem wirklich gut eingelebt und fühle mich super wohl in meiner Familie, die mich mittlerweile auch gut kennt und teilweise sogar meinen Namen richtig ausspricht. Wegen des Streiks war es uns in den letzten Wochen leider nicht möglich, Playas zu verlassen und wir mussten auch einen geplanten Besuch ins Nachbarprojekt von Olón spontan absagen. Das hält uns aber nicht davon ab, hier gemeinsam zum Beispiel auf Geburtstagen als Musiker aufzutreten, surfen zu gehen oder uns Braids machen zu lassen.
Liebe Grüße
Mats
